Ausgangssperre, Tag 19

It’s just another day for you and me in quarantine. Ausgangssperre, Tag 19

Vor genau drei Wochen ist meine Schwester mit einem der letzten Flieger aus Peru nach Deutschland zurückgereist. Sie hatte uns zwei Wochen besucht, Geburtstage mit uns gefeiert, die Sommertage genossen und zuletzt noch überlegt, ob sie den Flug nicht um ein oder zwei Wochen nach hinten schiebt, weil sie sowieso gerade Zeit hatte. Es war ziemlich schnell klar, dass das nicht möglich sein würde – es sei denn, sie wollte für unbestimmte Zeit im Land bleiben. Zwei Tage später machte die peruanische Regierung die Grenzen dicht und die Ausgangssperre für die gesamte Bevölkerung begann. Das ist jetzt 19 Tage her. Es fühlt sich an wie 19 Wochen. Die erste Woche in der Wohnung war ungewohnt, die zweite lustig, die dritte ist mühsam. Momentan ist die Quarantäne bis zum 14. April angesetzt. Und dann? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Menschen auch danach in ihren Wohnungen bleiben müssen.

Familie in Corona-Zeiten. Schön und anstrengend.

Bis heute gibt es in Peru 1.595 Menschen, die am Coronavirus erkrankt sind, und 61 Todesfälle. Das ist verschwindend gering im Vergleich zu den Zahlen anderer Länder. Aber Peru zieht ihre strengen Maßnahmen durch, aus Angst vor einem Kollaps des Gesundheitssystems.

Mein neuer Arbeitgeber, die digitale Nachrichtenagentur Ojo Público, für die ich seit Mitte März (also seit der Ausgangssperre) arbeite, hat letzte Woche diesen informativen Artikel „Guía Práctica para el Estado de Emergencia“ veröffentlicht, den man z.B. über deepl.com ins Deutsche übersetzen lassen kann.

Jeden Tag wird die Ausgangssperre weiter verschärft, weil sich nicht alle Peruaner*innen an die Regelungen halten (können), die Gründe dafür sind vielfältig. Oft ist es die existenzielle Not, weil kein Arbeitslosengeld, Kurzzeitvertrag oder Hartz IV die Menschen auffängt, wenn das Einkommen von einem Tag auf den anderen wegbricht. Manchmal ist es aber auch das schlichte Bedürfnis, an die frische Luft zu kommen. Um das zu verhindern, hat die Regierung in den letzten Tagen immer strengere Regeln erlassen:

  • totale Ausgangssperre von 17 Uhr bis 6 Uhr morgens
  • Männer dürfen nur noch montags, mittwochs, freitags raus (für Einkäufe oder andere wichtige Dinge) und Frauen dienstags, donnerstags und samstags. Kinder sollen die ganze Zeit zuhause bleiben.
  • Sonntags ist Sperrstunde für alle
  • Spazierengehen, joggen oder andere sportliche Aktivitäten sind verboten
  • Draußen gilt Mundschutzpflicht
  • Vor Betreten der Supermärkte desinfizieren Mitarbeiter*innen die Hände der Kund*innen
  • Abends um 20 Uhr vermischen sich immer mehr Sirenen und Lautsprecherdurchsagen der Polizei mit dem allabendlichen Applaus und den nostalgischen Liedern wie „Contigo Perú“

All das führt jetzt zu absurden bis erschreckenden Szenen im Alltag. Als vorhin eine Frau mit ihrem Hund rausging (an einem Freitag, also Männer-Tag), gingen die Nachbar*innen auf die Balkone und brüllten ihr zu: Quédate en casa! Bleib zuhause! Was fällt dir ein?! Die meisten Peruaner*innen nehmen die Ausgangssperre sehr ernst.

Mattes war vorhin einkaufen und traf im Supermarkt auf lauter ratlose Männer, die sich im Haushalt normalerweise vollständig auf ihre Frauen verlassen, die für sie einkaufen, kochen, waschen, putzen. Die Rollen sind in Peru klar verteilt und der Machismus tief verwurzelt. Jetzt also Männer jeglichen Alters vor Regalen von Gemüse, Nudeln, Soßen, Haushaltsdingen. Schneller Griff zum Telefon: Schatz, welche Nudeln meintest du nochmal genau? Und wo finde ich das Putzmittel, das du immer benutzt?

Schlangen vorm Supermarkt und Desinfektion vorm Betreten

Vor den Supermärkten achten Polizeikräfte peinlich genau auf einen Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen den Wartenden. Aber wenn die Menschen dann in den Laden gehen, tummeln sich alle wieder so eng wie vorher. An den Kassen: Tumult.

Statt joggen oder surfen zu gehen, laufen wir alle paar Tage die 14 Stockwerke bis zu unserer Wohnung runter und wieder rauf. Das Surfbrett bocken wir auf eine kleine Bank und paddeln dann mit Blick in den Park. Mit den Kindern haben wir Parcours ausgedacht, mit Bockspringen, Seilhüpfen, Poweryoga und Klopapier-Fitnessübungen.

Wir hoffen darauf, dass bald alles wieder so sein wird wie vorher und wissen, dass es nie wieder so sein wird. Dass diese Wochen eine Zäsur sind, mit ungewissem Ausgang. Dass daraus hoffentlich viele neue gute Dinge entstehen werden.

 

 

In all diesen beunruhigenden, neuen, unsicheren, stressigen, tumultigen und dann auch wieder ruhigen Tagen zum Schluss ein Lied für euch, mit dem die Schule der Kinder diese Woche ihre clases a distancia begann: „La vida está por empezar“, das Leben fängt gerade an. Zum Heulen schön.

Applaus am Abend

Versammlungsfreiheit gibts jetzt nur noch im Spielzimmer

Ausgangssperre, vierter Tag.

Jeder Tag hat eine andere Dynamik. Am ersten Tag waren wir noch verwundert, amüsiert. Am zweiten voll in Aktion mit Kinderprogramm. Am dritten kam der Hänger, Ohnmachtsgefühle und Tränen am Abend. Jetzt, am vierten, haben wir uns einen Plan gemacht, feste Zeiten für die Fernschule, für die Arbeit am Computer, fürs Spielen und Basteln, fürs Toben und Sport. 

Die Stadt da draußen

Und wir hier drinnen

Den ganzen Tag in der Wohnung sein müssen ist echt hart. Wir schauen hinunter in den menschenleeren Park, sehen das Meer in der Ferne glitzern, wir stecken die Köpfe weit aus den Fenster, um frische Luft zu schnappen, wir sehen die Sonne auf und wieder untergehen. Und dürfen das Haus nicht verlassen, außer für zwingend notwendige Einkäufe.Wenn die Ratlosigkeit und Ohnmachtsgefühle überhand nehmen, fragen wir uns: warum das alles, bei bisher nur 200 Fällen in Peru? Und wie lange wird diese Ausgangssperre anhalten? Zwei Wochen? Einen Monat? In Chile wurde heute der Katastrophenfall für drei Monate ausgerufen. Läuft das auf drei Monate Quarantäne hinaus? Wie soll das denn gehen mit Kindern??

Mayras Geburtstag im Haus, mit Torte und Telekommunikation

Dann wieder denken wir: nicht zu viel schlimme Nachrichten lesen. Abwarten. Durchatmen. Die Zeit in der Familie genießen. Gut schlafen. Lecker kochen. Sich bewegen. Hoffen, dass der Spuk bald vorüber ist. Und dankbar sein, dass wir trotz allem  sehr privilegiert sind. Wir sind nicht alleine zuhause, wir sind gesund, wir sind finanziell abgesichert. In Peru sind 70 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor beschäftigt, als Straßenverkäufer*innen, Putzkraft, Hilfsarbeiter*innen, in der Kinderbetreuung, als Haushaltshilfe, Automechaniker*in oder Schuhputzer*in. In manchen Regionen in den Anden, in denen die Armut extrem ist, sind es sogar 90 Prozent. Für diese Menschen ist die gesetzlich verordnete Ausgangssperre existenzbedrohend. Zwar hat die Regierung jedem/jeder Bedürftigen 380 Soles (ca. 100 Euro) zugesichert, aber wie sollen die Betroffenen davon mehrköpfige Familien ernähren, Mieten zahlen und sonstige laufende Kosten?

Zwei Drittel der Bevölkerung Perus arbeitet im informellen Sektor

Und was ist mit den vielen Senior*innen, die zur größten Risikogruppe gehören? Allein in unserem Haus leben 80 Prozent ältere Menschen. Wir organisieren  uns mit Nachbarschaftshilfe, Anrufen, Zusammenhalt.

Ohne Zusammenhalt und Solidarität und eine gute Portion Humor wäre das alles kaum auszuhalten. Ich lese von Balkonkonzerten in Italien, gemeinsamen Fitnesstrainings von Fenster zu Fenster, frei zugänglichen Lernplattformen, Sportstunden per Video für Kinder, Tipps zum Basteln, Kochen, die Zeit nicht nur absitzen, sondern nutzen und vor allem – genießen. Wir lachen jeden Tag über die schrägen und wirklich kreativen Videos, wie sich eine längere Ausgangssperre auf unseren Alltag und auf uns auswirkt. Und wir kriegen jeden Abend Gänsehaut, wenn sich hier in Lima jetzt jeden Abend um 20 Uhr die Fenster öffnen und die Menschen applaudieren. Den Helfer*innen da draußen und uns selbst hier drinnen. Den ganzen Tag sehen und hören wir nichts voneinander, die 11 Millionen Stadt liegt ausgestorben da. Und dann gehen die Fenster auf, die Lichter an, die Musik wird aufgedreht, vamos Peru carajo, si se puede rufen die Menschen, wir schaffen das! Einer singt die Nationalhymne und gestern schallten die schönsten und ältesten Peru-Klassiker durch die laue Sommernacht, Musica Criolla, Cajon und Gitarre. Ich bin gespannt, was heute kommt. Und freue mich jetzt schon auf die Abschlussparty nach abgeschlossener Quarantäne. Wann auch immer die sein wird.

Das Leben in Zeiten des Corona Virus

Goodbye Summer. Zuhause bleiben im Hochsommer ist verdammt schwer, aber in diesen Tagen notwendig.

Hallo ihr Lieben.

Dieser Blog lag lange Monate im Winterschlaf und dann im Sommerschlaf und überhaupt ist hier ja seit anderthalb Jahren gar nichts mehr passiert. Das hat verschiedene Gründe. Aber wir sind noch da. Und in diesen verrückten Tagen habe ich das dringende Gefühl, euch hier ein paar Gedanken und Eindrücke mitzuteilen, während ihr in Europa oder wo auch immer ihr seid, und wir in Südamerika das Corona-Virus und seine Folgen mit Entsetzen oder Panik oder Kopfschütteln beobachten.

Als die ganze Corona-Geschichte losging, dachte ich anfangs noch (wie wahrscheinlich viele): ach, das geht vorbei. Aber nun gibt es bald zweihunderttausend Fälle in aller Welt und mehrere Tausend Tote. Peru hat sehr schnell sehr drastische Maßnahmen ergriffen, um das Virus einzudämmen. Aus gutem Grund: die Gesundheitsversorgung hier ist miserabel und die Krankenhäuser wären niemals auf einen Ansturm von Coronafällen vorbereitet. Zwar ist die Zahl der Infizierten hier noch sehr gering (heute, am 17. März bei 117), aber wie wir in Ländern wie Italien oder Spanien gesehen haben oder jetzt auch in Deutschland, steigt die Kurve exponentiell nach oben, das heißt, in kurzer Zeit könnten es doppelt und dann dreimal so viele sein.

 

 

 

 

 

 

Vor zwei Wochen haben wir erfahren, dass die Schulen und Kindergärten geschlossen werden. Das heißt, die schon seit 3 Monaten andauernden Sommerferien der Kinder verlängern sich auf unbestimmte Zeit. Dann wurden die Grenzen geschlossen. Und seit gestern, 16. März, ist der Notstand ausgerufen und eine „isolación social obligatoria“. Das heißt, Qurantäne für alle, und zwar verpflichtend. Bis auf Supermärkte, Banken, Apotheken und Krankenhäuser hat alles geschlossen. Niemand ist auf den Straßen. Die Straßen sind fast leer. Die Strände sind gesperrt. Als ich am Sonntag morgen noch ein letztes Mal am Meer war, um ein paar Wellen zu surfen, kam Sicherheitspersonal und Polizei angerückt und forderte die Menschen auf, nach Hause zu gehen.

Stellt euch also vor, es ist Hochsommer und alle bleiben zu Hause. Das ist absurd und gruselig und dennoch die wahrscheinlich einzige richtige Maßnahme, um das Corona Virus einzudämmen. Natürlich fühlen wir uns in unseren persönlichen Rechten und unserer Selbstbestimmung massivst eingeschränkt. Es ist Sommer! Wir haben Kinder! Wir wollen raus! Gestern war Mayras Geburtstag und wir hätten diesen Tag gerne mit Freunden im Park gefeiert. Aber es geht jetzt nicht um individuelle Bedürfnisse, sondern um soziale Verantwortung, damit sich das Virus langsamer ausbreitet.

Sehr anschaulich vermittelt das die Animation des Künstlers Juan Delcan, die zur Zeit in den sozialen Medien kursiert: Dort sieht man eine Reihe von Streichhölzern, der Funke springt von einem zum nächsten über, und erst als eines der Streichhölzer zur Seite tritt, wird der Dominoeffekt unterbrochen. Das heißt: Je mehr Menschen in diesen Tagen auf soziale Kontakte verzichten und zu Hause bleiben, umso weniger wird das Virus sich verbreiten können.

Also versuchen wir, die Quarantäne so gut es geht zu nutzen und zu genießen. Bei uns sieht das gerade so aus: morgens mit allen im großen Bett kuscheln, Frühstück mit Mango und Maracuya (danke Peru, dass hier diese sagenhaft leckeren Früchte wachsen), Yoga mit allen, die Lust haben, Deutsch-Fernschulunterricht mit den beiden Großen, Lego spielen ohne Ende, obwohl doch eigentlich jetzt Schule wäre, Spiele spielen und toben. Und dann natürlich Hausarbeit und Computerarbeit. Alle Büros haben geschlossen und wir arbeiten aus dem Home Office.
Ich hätte gestern, am ersten Tag der Quarantäne, eigentlich meine neue feste Stelle bei der investigativen Nachrichtenplattform Ojo Público begonnen. Jetzt bin ich mit meinen neuen Kolleg*innen per Telefon und Email in Kontakt und versuche, Recherchen und Textarbeiten von zu Hause aus zu erledigen. So gut das in diesen Tagen eben geht, mit drei lebhaften Kindern im Hintergrund.
Die Jüngste versteht das alles am Wenigsten. Sie geht eigentlich täglich raus in den Park und auf den Spielplatz, ihren geliebten „beppi“. Jetzt steht sie am Fenster und sieht hinunter und fragt: Beppi? Und wir sagen: Nein, das geht gerade leider nicht. Und dann holen wir den Roller raus und bauen einen Parcours im Wohnzimmer auf und rennen um die Tische, bis uns schwindelig wird. Das Leben in Zeiten von Corona könnte schlimmer sein.