Ausgangssperre, Tag 19

It’s just another day for you and me in quarantine. Ausgangssperre, Tag 19

Vor genau drei Wochen ist meine Schwester mit einem der letzten Flieger aus Peru nach Deutschland zurückgereist. Sie hatte uns zwei Wochen besucht, Geburtstage mit uns gefeiert, die Sommertage genossen und zuletzt noch überlegt, ob sie den Flug nicht um ein oder zwei Wochen nach hinten schiebt, weil sie sowieso gerade Zeit hatte. Es war ziemlich schnell klar, dass das nicht möglich sein würde – es sei denn, sie wollte für unbestimmte Zeit im Land bleiben. Zwei Tage später machte die peruanische Regierung die Grenzen dicht und die Ausgangssperre für die gesamte Bevölkerung begann. Das ist jetzt 19 Tage her. Es fühlt sich an wie 19 Wochen. Die erste Woche in der Wohnung war ungewohnt, die zweite lustig, die dritte ist mühsam. Momentan ist die Quarantäne bis zum 14. April angesetzt. Und dann? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Menschen auch danach in ihren Wohnungen bleiben müssen.

Familie in Corona-Zeiten. Schön und anstrengend.

Bis heute gibt es in Peru 1.595 Menschen, die am Coronavirus erkrankt sind, und 61 Todesfälle. Das ist verschwindend gering im Vergleich zu den Zahlen anderer Länder. Aber Peru zieht ihre strengen Maßnahmen durch, aus Angst vor einem Kollaps des Gesundheitssystems.

Mein neuer Arbeitgeber, die digitale Nachrichtenagentur Ojo Público, für die ich seit Mitte März (also seit der Ausgangssperre) arbeite, hat letzte Woche diesen informativen Artikel „Guía Práctica para el Estado de Emergencia“ veröffentlicht, den man z.B. über deepl.com ins Deutsche übersetzen lassen kann.

Jeden Tag wird die Ausgangssperre weiter verschärft, weil sich nicht alle Peruaner*innen an die Regelungen halten (können), die Gründe dafür sind vielfältig. Oft ist es die existenzielle Not, weil kein Arbeitslosengeld, Kurzzeitvertrag oder Hartz IV die Menschen auffängt, wenn das Einkommen von einem Tag auf den anderen wegbricht. Manchmal ist es aber auch das schlichte Bedürfnis, an die frische Luft zu kommen. Um das zu verhindern, hat die Regierung in den letzten Tagen immer strengere Regeln erlassen:

  • totale Ausgangssperre von 17 Uhr bis 6 Uhr morgens
  • Männer dürfen nur noch montags, mittwochs, freitags raus (für Einkäufe oder andere wichtige Dinge) und Frauen dienstags, donnerstags und samstags. Kinder sollen die ganze Zeit zuhause bleiben.
  • Sonntags ist Sperrstunde für alle
  • Spazierengehen, joggen oder andere sportliche Aktivitäten sind verboten
  • Draußen gilt Mundschutzpflicht
  • Vor Betreten der Supermärkte desinfizieren Mitarbeiter*innen die Hände der Kund*innen
  • Abends um 20 Uhr vermischen sich immer mehr Sirenen und Lautsprecherdurchsagen der Polizei mit dem allabendlichen Applaus und den nostalgischen Liedern wie „Contigo Perú“

All das führt jetzt zu absurden bis erschreckenden Szenen im Alltag. Als vorhin eine Frau mit ihrem Hund rausging (an einem Freitag, also Männer-Tag), gingen die Nachbar*innen auf die Balkone und brüllten ihr zu: Quédate en casa! Bleib zuhause! Was fällt dir ein?! Die meisten Peruaner*innen nehmen die Ausgangssperre sehr ernst.

Mattes war vorhin einkaufen und traf im Supermarkt auf lauter ratlose Männer, die sich im Haushalt normalerweise vollständig auf ihre Frauen verlassen, die für sie einkaufen, kochen, waschen, putzen. Die Rollen sind in Peru klar verteilt und der Machismus tief verwurzelt. Jetzt also Männer jeglichen Alters vor Regalen von Gemüse, Nudeln, Soßen, Haushaltsdingen. Schneller Griff zum Telefon: Schatz, welche Nudeln meintest du nochmal genau? Und wo finde ich das Putzmittel, das du immer benutzt?

Schlangen vorm Supermarkt und Desinfektion vorm Betreten

Vor den Supermärkten achten Polizeikräfte peinlich genau auf einen Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen den Wartenden. Aber wenn die Menschen dann in den Laden gehen, tummeln sich alle wieder so eng wie vorher. An den Kassen: Tumult.

Statt joggen oder surfen zu gehen, laufen wir alle paar Tage die 14 Stockwerke bis zu unserer Wohnung runter und wieder rauf. Das Surfbrett bocken wir auf eine kleine Bank und paddeln dann mit Blick in den Park. Mit den Kindern haben wir Parcours ausgedacht, mit Bockspringen, Seilhüpfen, Poweryoga und Klopapier-Fitnessübungen.

Wir hoffen darauf, dass bald alles wieder so sein wird wie vorher und wissen, dass es nie wieder so sein wird. Dass diese Wochen eine Zäsur sind, mit ungewissem Ausgang. Dass daraus hoffentlich viele neue gute Dinge entstehen werden.

 

 

In all diesen beunruhigenden, neuen, unsicheren, stressigen, tumultigen und dann auch wieder ruhigen Tagen zum Schluss ein Lied für euch, mit dem die Schule der Kinder diese Woche ihre clases a distancia begann: „La vida está por empezar“, das Leben fängt gerade an. Zum Heulen schön.

Das Leben in Zeiten des Corona Virus

Goodbye Summer. Zuhause bleiben im Hochsommer ist verdammt schwer, aber in diesen Tagen notwendig.

Hallo ihr Lieben.

Dieser Blog lag lange Monate im Winterschlaf und dann im Sommerschlaf und überhaupt ist hier ja seit anderthalb Jahren gar nichts mehr passiert. Das hat verschiedene Gründe. Aber wir sind noch da. Und in diesen verrückten Tagen habe ich das dringende Gefühl, euch hier ein paar Gedanken und Eindrücke mitzuteilen, während ihr in Europa oder wo auch immer ihr seid, und wir in Südamerika das Corona-Virus und seine Folgen mit Entsetzen oder Panik oder Kopfschütteln beobachten.

Als die ganze Corona-Geschichte losging, dachte ich anfangs noch (wie wahrscheinlich viele): ach, das geht vorbei. Aber nun gibt es bald zweihunderttausend Fälle in aller Welt und mehrere Tausend Tote. Peru hat sehr schnell sehr drastische Maßnahmen ergriffen, um das Virus einzudämmen. Aus gutem Grund: die Gesundheitsversorgung hier ist miserabel und die Krankenhäuser wären niemals auf einen Ansturm von Coronafällen vorbereitet. Zwar ist die Zahl der Infizierten hier noch sehr gering (heute, am 17. März bei 117), aber wie wir in Ländern wie Italien oder Spanien gesehen haben oder jetzt auch in Deutschland, steigt die Kurve exponentiell nach oben, das heißt, in kurzer Zeit könnten es doppelt und dann dreimal so viele sein.

 

 

 

 

 

 

Vor zwei Wochen haben wir erfahren, dass die Schulen und Kindergärten geschlossen werden. Das heißt, die schon seit 3 Monaten andauernden Sommerferien der Kinder verlängern sich auf unbestimmte Zeit. Dann wurden die Grenzen geschlossen. Und seit gestern, 16. März, ist der Notstand ausgerufen und eine „isolación social obligatoria“. Das heißt, Qurantäne für alle, und zwar verpflichtend. Bis auf Supermärkte, Banken, Apotheken und Krankenhäuser hat alles geschlossen. Niemand ist auf den Straßen. Die Straßen sind fast leer. Die Strände sind gesperrt. Als ich am Sonntag morgen noch ein letztes Mal am Meer war, um ein paar Wellen zu surfen, kam Sicherheitspersonal und Polizei angerückt und forderte die Menschen auf, nach Hause zu gehen.

Stellt euch also vor, es ist Hochsommer und alle bleiben zu Hause. Das ist absurd und gruselig und dennoch die wahrscheinlich einzige richtige Maßnahme, um das Corona Virus einzudämmen. Natürlich fühlen wir uns in unseren persönlichen Rechten und unserer Selbstbestimmung massivst eingeschränkt. Es ist Sommer! Wir haben Kinder! Wir wollen raus! Gestern war Mayras Geburtstag und wir hätten diesen Tag gerne mit Freunden im Park gefeiert. Aber es geht jetzt nicht um individuelle Bedürfnisse, sondern um soziale Verantwortung, damit sich das Virus langsamer ausbreitet.

Sehr anschaulich vermittelt das die Animation des Künstlers Juan Delcan, die zur Zeit in den sozialen Medien kursiert: Dort sieht man eine Reihe von Streichhölzern, der Funke springt von einem zum nächsten über, und erst als eines der Streichhölzer zur Seite tritt, wird der Dominoeffekt unterbrochen. Das heißt: Je mehr Menschen in diesen Tagen auf soziale Kontakte verzichten und zu Hause bleiben, umso weniger wird das Virus sich verbreiten können.

Also versuchen wir, die Quarantäne so gut es geht zu nutzen und zu genießen. Bei uns sieht das gerade so aus: morgens mit allen im großen Bett kuscheln, Frühstück mit Mango und Maracuya (danke Peru, dass hier diese sagenhaft leckeren Früchte wachsen), Yoga mit allen, die Lust haben, Deutsch-Fernschulunterricht mit den beiden Großen, Lego spielen ohne Ende, obwohl doch eigentlich jetzt Schule wäre, Spiele spielen und toben. Und dann natürlich Hausarbeit und Computerarbeit. Alle Büros haben geschlossen und wir arbeiten aus dem Home Office.
Ich hätte gestern, am ersten Tag der Quarantäne, eigentlich meine neue feste Stelle bei der investigativen Nachrichtenplattform Ojo Público begonnen. Jetzt bin ich mit meinen neuen Kolleg*innen per Telefon und Email in Kontakt und versuche, Recherchen und Textarbeiten von zu Hause aus zu erledigen. So gut das in diesen Tagen eben geht, mit drei lebhaften Kindern im Hintergrund.
Die Jüngste versteht das alles am Wenigsten. Sie geht eigentlich täglich raus in den Park und auf den Spielplatz, ihren geliebten „beppi“. Jetzt steht sie am Fenster und sieht hinunter und fragt: Beppi? Und wir sagen: Nein, das geht gerade leider nicht. Und dann holen wir den Roller raus und bauen einen Parcours im Wohnzimmer auf und rennen um die Tische, bis uns schwindelig wird. Das Leben in Zeiten von Corona könnte schlimmer sein.

Eine tückische Frage

Fast ein halbes Jahr lag unser Blog im Winterschlaf. Währenddessen wurde es kühl in Lima, wir flogen für ein paar Wochen nach Deutschland, um unsere Familien und Freunde zu besuchen, Alltagswochen mit Schule, Kita, Arbeit und Reisen verflogen wie im Nu. Jetzt melden wir uns endlich zurück und werden in den nächsten Wochen den Blog wieder mit Berichten und Bildern füttern, denn wir sind noch hier in Peru und bleiben auch noch hier für eine geraume Weile. Ein herzliches Hallo also in die Runde und schön, dass ihr auch noch da seid und unsere Eindrücke weiterhin mitverfolgt 🙂

Am vergangenen Sonntag war Censo Nacional, nationale Volkzählung in Peru. Über 30 Millionen Menschens sollten statistisch erfasst werden, mit Fragen zu Namen, Alter, Bildungsgrad, Beruf, Haushaltsaustattung (haben Sie eine Waschmaschine? Kühlschrank? TV?), Muttersprache (Spanisch? Quechua? Aymara? Shipibo?) und – die vorab am meisten diskutierte Frage – nach ethnischer Zugehörigkeit: Quechua? Asháninka? Afroperuano oder Schwarz? Weiß? Mestizo? Oder ganz etwas anderes? Die Tücke bei dieser Frage: Sie klingt, als werde nach der Zugehörigkeit einer „Rasse“ gefragt, obwohl sie im Grunde auf die kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit abzielt, auf die Selbst-Identifikation.

Es werden einige Antwortoptionen gegeben, und diese sind das Hauptproblem: wer gefragt wird, wie er sich definiert: Schwarz? Weiß? Mestizo? hat vermutlich die ganze Farbpalette des auf Rassismus basierenden Kolonialismus vor Augen, als Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe verschiedenen Klassen zugeordnet wurden, als Bezeichnungen für Hautfarbentypen aufkamen, die dich bestimmten Kasten zuordneten und dich rechtlich und sozial privilegierten oder diskriminierten: Weiß, Indigen, Mestize, Mulatte, Castizo, Cuarterón de Indio, Cholo und viele weitere.

Wenn man heute, 500 Jahre nach Beginn des Kolonialismus in Südamerika und 150 Jahre nach der Unabhängigkeit der meisten lateinamerikanischen Länder, nach einigen dieser Bezeichnungen fragt, zeigt sich vor allem eines: dass das Erbe dieses rassistischen Systems immer noch tief in den Köpfen der Menschen verankert ist. Bis heute gibt es Menschen aus dem Hochland oder dem Amazonasgebiet, die ihre Herkunft negieren, ihre Sprachen verleugnen, sich lieberMestizo nennen als Indigen, selbst wenn ihre gesamte Geschichte die einer Indigenen ist. Eine Freundin, die bei der NGO Forum Solidaridad Perú arbeitet, erzählte neulich von einem Treffen mit Führerinnen indigener Gruppen, líderas indígenas, die sich der Aufgabe verschrieben haben, ihre Lebenswelten sichtbar zu machen und nach außen zu vertreten. Bei diesem Treffen gefragt, ob sie sich als Mestizas oder Indígenas definierten, antworteten bis auf eine: Mestizas natürlich. Wer in Lima lebt, kann doch keine Indígena mehr sein, oder? Wer hauptsächlich Spanisch spricht und kein Quechua (mehr), ist doch keine Indígena, oder? Aber diese Leugnung kultureller und sprachlicher Wurzeln, so verständlich sie auch sein mag (wer zählt sich schon lieber zur Gruppe derjenigen, die in der peruanischen Gesellschaft bis heute nicht voll akzeptiert werden, denen bis heute Vorurteile entgegenschlagen, denen bis heute viele Türen verschlossen bleiben?) , führt dazu, dass diese Gruppen – Asháninka, Quechua, Aymara und all die tausend Mischformen – weiterhin nicht sichtbar und in der peruanischen Politik mitgedacht werden.

 

 

Denn das – so heißt es zumindest von offizieller Seite – sei das eigentliche Ziel dieser Frage: dass die Vielfalt der kulturellen und ethnischen Gruppen in Peru sichtbar wird und die Gruppen entsprechend gehört und vertreten werden können. Wenn zum Beispiel in einem Distrikt viele Asháninka leben, sollte man hier interkulturelle Bildung stärker auf die Agenda setzen, um eben dieser Bevölkerungsgruppe gerecht zu werden. Wenn in einem Gebiet Quechua die dominante Sprache ist, könnte man hier Quechua als zweite Sprache in der Schule anbieten. Darum gab es im Vorfeld des Censo unzähliche Kommentare und Debatten in den sozialen Medien, die versuchten, die Menschen dazu zu animieren, sich gut zu überlegen, wie sich definieren. Wie leben sie ihren Alltag? In welcher Sprache sind sie zuhause? Welche Bräuche pflegen sie?

Wenn der Censo also verantwortungsvoll durchgeführt würde, könnte man Hunderttausende von Menschen anerkennen, die sich über ihre Gebräuche und ihre Traditionen als zugehörig zu einer der vielen ethnischen Gruppen im Land definieren, die besondere Rechte haben (zum Beispiel kollektive Landrechte) oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit diskriminiert und marginalisiert werden. Der Staat sollte wissen, wie viele Menschen diesen Gruppen angehören und wo sie sind, um Programme sozialer Gerechtigkeit stärker in den Fokus zu bringen. 

 

Die Tatsache ist jedoch, dass viele sich durch die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten – Weiß, Schwarz, Indigen, Mestizo? – verunsichern lassen und an „Rasse“ denken statt an „ethnische Zugehörigkeit“. Die Tatsache ist, dass in manchen ländlichen Regionen (so erzählte uns ein Freund aus Puno, der für das Institut für andine Kulturen, IDECA, arbeitet) die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit mitunter gar nicht gestellt wurde, sondern die Mitarbeiter des Nationalen Statistikinstituts, die die Volkszählung durchführten, über die Frage nach der Sprache (Spanisch? Quechua?) direkt auf die kulturelle Zugehörigkeit schlussfolgertern. Die Tatsache ist, dass die Ergebnisse der Volkszählung möglicherweise dazu führen könnten, dass der Staat die erhobenen Daten gegen just die Gruppen verwenden kann, für die sie eigentlich gedacht waren. Es gibt nur soundsoviele Menschen, die sich als indigen definieren und so viele, die Mestizen sind? Okay, dann haben letztere eben keine Ansprüche auf kollektive Landrechte und dann müssen wir dort auch keine Vorabbefragung (consulta previa) durchführen, die indigenen Bevölkerungsgruppen Mitbestimmung in Bezug auf die Entwicklung ihrer Lebensregionen garantieren.

Was die Daten der Volkszählung ergeben werden und wie die peruanische Regierung sie nutzen oder missbrauchen wird, wird sich noch zeigen. Die Bilanz am Ende des ersten Tages des Censo (in den Provinzen, wo 20 Millionen Menschen teilweise in entlegensten Dörfern leben, dauert die Zählung noch weitere zwei Wochen) aber ist: die Limenos blieben wirklich zuhause (zumindest die allermeisten). Von 8 Uhr bis 17 Uhr war kaum jemand auf den Straßen zu sehen. Die Bilanz ist: ein unglaublich ruhiger Sonntag. Kein Verkehrsrauschen, kein Stau, kein Hupen, wie sonst immer. 5800 Tonnen weniger CO2 Emissionen, weil die Straßen neun Stunden lang leer blieben.

Und die Bilanz ist leider auch: mehrere körperliche Übergriffe gegenüber weiblichen Mitarbeiterinnen des INEI , während sie die Fragebögen in den privaten Häusern und Wohnungen ausfüllen ließen. Einigen wurde gedroht, einige wurden verprügelt, eine vergewaltigt. Die Vergewaltigungsrate in Peru ist die dritthöchte der Welt, nach Bangladesch und Äthiopien. Gewalt gegenüber Frauen ist alltäglich. Aber das ist ein anderes Thema. Ein Blog-Beitrag wird sicherlich folgen.

Gegen das Vergessen

3Vor geraumer Zeit waren wir mit Freunden, die aus Bogotá/Kolumbien zu Besuch waren, im „Lugar de la Memoria, la Tolerancia y la Inclusión social“, kurz LUM genannt. Die imposante Gedenkstätte erinnert von außen ein bißchen an das Jüdische Museum in Berlin – ein wuchtiges Gebäude, eng zulaufende Spitzen, viel Beton, man verliert sich beim Hineingehen, steigt viele Stufen hinab in die Tiefen der jüngeren peruanischen Geschichte. Im LUM wird an die Zehntausende Todesopfer der Gewalt erinnert, die dem schmutzigen Krieg von Armee und Polizei auf der einen und der maoistischen Guerillagruppe Leuchender Pfad (Sendero Luminoso) sowie der revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA) auf der anderen Seite in den Jahren 1980 bis 2000 zum Opfer fielen.

69.280 Menschen kostete der Konflikt das Leben, zumeist indigener Abstammung, so ist es in den mehr als 6.000 Seiten umfassenden Bericht der peruanischen Wahrheitskommission festgehalten. Fast die Hälfte der Opfer stammen aus der Region von Ayacucho, 570 Kilometer von Lima entfernt.

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Dorfbewohner bei Huancavelica greifen zu den Waffen nach einem Massaker durch die Senderisten, 1990

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Angélica Mendoza gründete mit anderen Müttern, deren Söhne verschwanden, 1984 die Opfervereinigung ANFASEP

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Der Bericht der Wahrheitskommission

 

 

 

 

 

 

 

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Flucht Richtung Hauptstadt

Der frühere Präsident Alan García hatte zunächst große Bedenken zur Ausstellung gehabt. Er befürchtete, dass das Museum die Armee in ein allzu negatives Licht stellen würde. Seine Sorge erwies sich als unbegründet. Es ist eine armee-freundliche Ausstellung geworden. Juana Carrión, Vize-Präsidentin der Opfervereinigung ANFASEP, sagt diplomatisch: “Die Ausstellung an sich ist in Ordnung. Aber sie erzählt nichts über die Verbrechen des Militär”.

Stattdessen werden gleich im Eingangsbereich des Museums die Ursachen der Gewalt scheinbar eindeutig umrissen: die Gründungen der verschiedener Guerilla-Organisationen wie Tupac Amaru oder Sendero Luminoso. Kein Wort zu den sozialen und politischen Umständen, die deren Entstehung zu Grunde lagen. Die einfache Formel der Erklärung lautet im LUM: Gewalt = Terror = subversive Organisationen. Es wäre interessant gewesen, nachzuforschen, warum in den 1960 und 1970er Jahren so viele Revolutionsbewegungen Aufschwung bekamen, welchen Einfluss die Ideen der Roten Khmer in Kambodscha auf die Ideen Abimael Guzmáns, des Anführer der Senderisten hatte, was (Kritik am) Imperialismus und Kapitalismus mit der Geschichte zu tun hat und die Universitäten und…

Auch wenn es an einer wirklich kritischen Auseinandersetzung mit den Jahres der Gewalt und des Terrors fehlt, zeigt die Ausstellung in großen Bildern und mit vielen O-Tönen, welche Auswirkungen der Bürgerkrieg auf die Menschen, vor allem im Hochland gehabt hat. Wie Menschen verschwanden, gefoltert, vergewaltigt wurden, wie ganze Familien ausgelöscht wurden, wie viele Zehntausende Menschen ihre Dörfer im Hochland verlassen mussten und nach Lima gezogen sind, in die staubigen Hügel der Millionenstadt. Die meisten sind dort geblieben.

Der peruanische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa sagte, er wünsche sich, dass die Ausstellung ein Ort der Reflexion, der Debatte und der friedlichen Kontroverse sei. Sehr kontrovers gehalten ist die Gedenkstätte nicht, aber ein Denkanstoß allemal. Gegen das Vergessen. Der Eintritt ist kostenlos.

Hier gehts zur offiziellen Webseite des Museums

Zum Weiterlesen: EIn Artikel der Deutschen Welle Der lange Schatten des Bürgerkriegs

Der Bericht der Wahrheitskommission ist seit 2013 auch auf Deutsch erhältlich, in diesem Artikel der Infostelle Peru gibt es weitere Infos

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Huamanga, Stadt mit Vergangenheit

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Normalerweise bin ich vor Reisen recht gut informiert über den Ort, an den ich fahre. Vor allem, wenn es eine Recherchereise für einen Reiseführer ist. Als ich also vor einiger Zeit eine Tour durch die Berge machte, von Huancayo über Tarma, Huancavelica nach Ayacucho, war ich auf vieles vorbereitet. Aber Ayacucho hat mich völlig überrascht.

Die Begegnung mit Huancayo war nett. Huancavelica war schroff und schön zugleich. In Ayacucho habe ich mich verliebt. Und viel dazugelernt. Gleich das erste, was mich überraschte, war der Name selbst. Huamanga hörte ich immerzu, Huamanga. Die Bewohner nennen ihre Stadt seit Jahrhunderten so, mit Ayacucho bezeichnen sie den Namen der gesamten Provinz. Aber dennoch hat sich Ayacucho international als Stadtname durchgesetzt.

Ich mag den Namen Huamanga. Er geht runter wie Butter. Ich blieb länger in der Stadt als nötig, saß auf der Plaza, machte mir Notizen, wanderte durch die Straßen. Ich war ganz beseelt.

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Huancavelica

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img_9018huanca5Es begann schon in Huancavelica, wo ich mit dem Tren Macho angekommen war. Eine schöne kleine Stadt. Schroffe Felsen, warme Quellen, knorrige Menschen, die unbekümmert ihrer Arbeit nachgehen. Ich erfragte und erwanderte mir sämtliche Infos für den Reiseführer und verlor mich eine Stunde in einer kleinen eindrücklichen Ausstellung über die Zeit des Terrorismus in den 1980er und 1990er Jahren.

Früh am nächsten Morgen fuhr ich mit meinem Reisebegleiter (einem knapp 30-jährigen Afro-Limeno mit derbem Lima-Slang, der neun Jahre in der Ukraine gelebt und studiert hatte und mir von seiner ersten Liebe Natalja erzählte und dass er jetzt für ein Start-Up-Unternehmen Fertig-Schulen in die entferntesten Gegenden des Landes bringe), also am nächsten Morgen früh um fünf fahren wir ins Altiplano hoch, wo kein Baum mehr steht, aber Hunderte von Lamas weiden, die Lagune Choclococha schillert im Sonnenlicht, im Auto wickeln Dani (mein Reisebegleiter), ein Vater mit Sohn und zwei Frauen uns in nach Schaf riechende Wolldecken, während im Radio abwechselnd Modern Talking und peruanische Folklore läuft. Eine denkwürdige Reise.

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In Rumachaca, einer Kreuzung irgendwo im scheinbaren Nirgendwo, steigen wir aus, wir müssen uns ein weiteres Sammeltaxi besorgen für die Weiterfahrt nach Ayacucho. Das geht schneller als erwartet. Mit einem Fahrer, der auf der kurvigen Strecke so müde wird, dass ich um mein Leben fürchte und wir ihn dazu anhalten, sich kurz zu erfrischen, kommen wir um neun Uhr am Parque Sucre an. Nächste Erkenntnis: es ist nicht die Plaza de Armas, wie viele meinen. Die Bewohner sagen ausschließlich Parque Sucre. Der Platz ist noch leer, die Stadt wacht gerade erst auf. Vom Himmel scheint eine kräftige Sonne.

Was dann folgt, ist augenöffnend. Leute, vergesst Cusco. Ayacucho ist mindestens genauso schön. Eine Stadt voller alter Gebäude, Kirchen, Cafés und Kunsthandwerker. In der Ebene außerhalb der Stadt wurde die Unabhängigkeit von Spanien besiegelt. Die Profile der Menschen sind scharf geschnitten, ihr Stolz ungebrochen. In den Tagen, in denen ich dort bin, ziehen immer wieder Kapellen durch die Straßen, Heiligenfiguren werden aus den Kirchen geholt, Frauen und Männer in bunten Kleidern reiten über die Plaza, Holz tragende Esel hinterdrein.

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Ayacucho ist (immer noch) eine der ärmsten Provinzen des Landes und hat furchtbare Jahre der Gewalt und des Terrors ertragen müssen. Hier begann der Sendero Luminoso seine vermeintliche Revolution. Hier wurden Abertausende Menschen aus ländlichen Gebieten rekrutiert, hier starben Zehntausende auf grausamste Weise im fast 20 Jahre andauernden Bürgerkrieg, wurden verschleppt und gefoltert. Immer noch forschen Menschen in Massengräbern nach ihren Angehörigen. Die Wunden sind noch lange nicht verheilt. Das Museo de la Memoria (Museum der Erinnerung), initiiert von der Organisation der Opfer und Hinterbliebenen ANFASEP (Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecidos del Perú) und von deutschen Organisationen (Deutsche Botschaft, DED, GTZ u.a.) unterstützt, ist ein Zeichen dafür.

Das Schwarz-Weiß-Foto der Familie oben hat der Fotograf Baldomero Alejos in den 1940er Jahren aufgenommen. Er kam aus Huancavelica und machte Mitte des letzten Jahrhunderts Zehntausende Bilder in Ayacucho. Seine Enkel wollen seine Bilder, die bisher in Archiven schlummerten, jetzt der Öffentlichkeit zugänglich machen.

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Irgendwann fliegt alles auf

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Quelle: La República

Die peruanischen Behörden haben einen internationalen Haftbefehl gegen Alejandro Toledo erlassen. Er war von 2001 bis 2006 Staatspräsident des Landes Peru. Toledo wird angeklagt, 20 Millionen US-Dollar Bestechungsgelder des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht angenommen zu haben. Die Enthüllungen um den Konzern bringen nun amtierende und ehemalige Präsidenten in fast ganz Lateinamerika in Bedrängnis. Die Flucht von Perus Ex-Staatschef Toledo ist nur der spektakulärste Fall.

Alejandro Toledo ist der erste peruanische Präsident, der konkret und mit Beweisen angeklagt wird. Die peruanische Staatsanwaltschaft hat einen internationalen Haftbefehl gegen Alejandro Toledo erlassen und 30.000 US-Dollar Lösegeld ausgesetzt.  Vieles deutet darauf hin, dass Toledo und seine Frau Eliane Karp in den USA untergetaucht sind: Toledo hat einen Wohnsitz in San Francisco und eine Gastprofessur an der Stanford-Uni. Nun halten die diplomatischen Verhandlungen zwischen Peru und den USA über eine Auslieferung Toledos an.
Ausgerechnet Alejandro Toledo war es, der im Jahr 2000 die Anti-Korruptions-Kampagne gegen den damaligen Präsidenten Alberto Fujimori und seinen Berater Vladimiro Montesinos anführte. Jetzt wird der ehemalige Anti-Korruptions-Held selbst der Korruption im großen Stil bezichtigt. Toledo soll Bestechungsgeld in Höhe von 20 Millionen Dollar von der Firma Odebrecht angenommen haben. Der brasilianische Baukonzern erkaufte sich damit offenbar den Zuschlag, um einen massiv überteuerten Abschnitt der Fernstraße Interoceánica zu bauen, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet.
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Da war noch alles gut: Die ehemaligen Präsidenten Lula (Brasilien) und Toledo (Peru), bevor ihre Korruptionsverstrickungen aufflogen

Weitere Kronzeugen erklären, dass Odebrecht auch unter den Regierungen von Alan Garcia und Ollanta Humala Schmiergelder bezahlt hat.  Sogar der jetzige Präsident Pedro Pablo Kuczynski könnte in dem Korruptionsskandal belangt werden. Kuczynski war unter Alejandro Toledo Premier- und Finanzminister.

Die Sache zieht aber nicht nur in Peru Kreise. Gleich mehrere amtierende und frühere Staatspräsidenten aus Lateinamerika müssen fürchten, dass Marcelo Odebrecht auspackt. Der 48-jährige Brasilianer galt einmal als einer der mächtigsten Unternehmer des Kontinents. Er scheint auch einer der korruptesten gewesen zu sein. 2015 wurde der damalige Chef des Odebrecht-Konzerns zu 19 Jahren Haft verurteilt. Er ließ sich auf eine Kronzeugenregelung ein, d.h. er sagte – mit der Aussicht auf Strafminderung – selbst als Zeuge gegen Beteiligte, Mittäter und -wissende. Seine umfassende Aussage wurde in Brasilien zum Prozess zugelassen, bisher aber nicht veröffentlicht. Der zuständige Richter kam Anfang des Jahres bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Vieles deutet auf einen Unfall hin, aber die Verschwörungstheorien blühen trotzdem.

Zum Weiterlesen gibts hier einen ausführlichen Artikel in der Süddeutschen (16.02.2017)

Obama, Putin, Zuckerberg: Was war los beim APEC?

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Handshake zwischen Chinas Präsident Xi und dem peruanischen Gastgeber Kuczynski

Am vergangenen Wochenende wurde wieder einmal deutlich, in welchen Paralleluniversen wir uns im Alltag, in der Politik, in Lima bewegen. Am 19. und 20. November 2016 fand das 28. Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) statt. Für den 17. und 18. November wurden Feiertage im Zentrum der Stadt verhängt, sämtliche Kindergärten, Schulen und Büros hatten geschlossen. Während also viele Limeños sich über das unverhofft lange Wochenende freuten und die Stadt verließen, saßen Präsidenten und Wirtschaftsbosse, aber auch Facebook-Gründer Marc Zuckerberg in Lima und sprachen über Handelsabkommen und wirtschaftliche Verflechtungen. Zwischendurch feierte man auch den Día de la Salchipapa, den nationalen Wurst-mit-Pommes-Tag, aber das tut hier eigentlich nichts zur Sache.

Während die Vertreter der 21 Länder des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsabkommen, nämlich Australien, Brunei, Kanada, Chile, China, Hongkong, Indonesien, Japan, Korea, Malaysia, Mexika, Neuseeland, Papua Neu Guinea, Peru, Philippinen, Russland, Singapur, Taipei, Thailand, die USA und Vietnam  in schickem Ambiente beisammen saßen und über Wirtschaftsinteressen sprachen und Zuckerberg seine Visionen einer vernetzten Welt via WLAN vorstellte, geschahen in Lima folgende Dinge:

Im Zentrum protestierten mehr als 120 indigene Führer (Apus) aus dem Regenwald im nördlichen Departamento Loreto, Vertreter von fast 50 Gemeinden in der Region, gegen die gewaltigen Umweltverschmutzungen in ihren Gebieten. Im letzten Jahr sind immer wieder Erdöl-Pipelines gebrochen und verseuchen Wälder und Flüsse. Seit Monaten protestieren fast fünfzig Gemeinden der Flusseinzugsgebiete der Flüsse Marañón, Tigre, Pastaza, Chambira und Corriente, sie fordern ein Ende der Erdöl-Aktivititäten und Entschädigung für die letzten 40 Jahre exzessiver Ölförderung.

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Proteste in Loreto

Auf den Straßen versammeln sich Menschen, Organisationen, Kollektive und protestieren gegen das geplante Freihandelsabkommen TTP.

Der Bürgermeister von Lima, Luis Castañeda, will eine weitere Straßenüberführung bauen, als Reaktion auf den ausufernden Autoverkehr. Dafür müssten die Bäume und die Fahrradstraße (eine der wenigen) an der Avenida Salaverry weichen. Die Fahrrad-Community in Lima ist entsetzt und organisiert Fahrraddemos.

Der 11-jährige Junge aus der Shipibo-Comunidad von Cantagallo, die vor einigen Wochen komplett abgebrannt ist, ist an den Folgen seiner schweren Verbrennungen gestorben. Castañeda schweigt. Die Comunidad wird wohl weiter auf dem Gelände bleiben – das vorgesehene Gelände für den Umzug war ohne das Wissen der Comunidad anderweitig verkauft worden.

Man wird das Gefühl nicht los, dass sich alles nur ums Geld dreht.

Und so kommt es, dass im wirtschaftlich aufstrebenden Peru der neue Präsident Kuczynski die Gelegenheit nutzt, um sein Land und dessen Ressourcen für Exporte anzubieten. Der chinesische Präsident Xi freute sich und bot gleich mehrere Milliarden Dollar an, um unter anderem in das seit Jahren stillgelegte Projekt Rio Blanco zu investieren. Die Minengesellschaft Rio Blanco Copper S.A. hatte sich aus dem Gebiet zurückgezogen, weil die Bevölkerung strikt gegen den Bergbau war. In einer Bürgerabstimmung im Jahr 2007 hatten 97 % der ländlichen Gemeinden Huancabamba und Ayabaca, die vom Kupferabbau betroffen wären, gegen das Projekt gestimmt. Bis heute befürchten sie, dass das Bergbauvorhaben auf geplanten 20.000 Hektar wichtige Wasserquellen gefährden und Wälder und Hochlandebenen dauerhaft zerstören wird.

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Bergbauregion Piura

Das Problem heute ist: Das peruanische Energie- und Bergbauministerium hat die Wiederaufnahme des Projekt autorisiert, ohne die lokalen indigenen Gemeinden vorher zu konsultieren – die sogenannte Consulta Previa, die fest im Gesetz verankert ist, aber nur selten angewandt wird. Das Projekt Rio Blanco wird daher vermutlich den nächsten großen Bergbaukonflikt im Land verursachen, mit Demonstrationen, Blockaden, vom Staat verhängten Ausnahmezuständen, Verletzen und Schlimmerem. Bereits jetzt ist verstärkt Militär und Polizei vor Ort, unter dem Vorwand, eine Militärbasis zur Grenzkontrolle zu errichten. Die Menschen vor Ort befürchten, dass die Militarisierung der Zone dazu diene, den erneuten Einzug des Unternehmens Río Blanco Copper S.A. zu ermöglichen. Sie befürchten Repressionen und Gewalt seitens des Staates, wenn sie ihr Land und ihre Rechte verteidigen werden.

Die ökomenische Organisation für Entwicklung und Frieden (Fedepaz), Mitgliedsorganisation des Red Muqui, befürchtet, dass das Unternehmen Rio Blanco Copper für sich gute Konditionen schaffen will, um wieder in die Region zurückkehren zu können. Es behaupte, ein modernes Unternehmen zu sein mit entsprechenden Technologien, die keine Verschmutzung verursachten; außerdem böten sie eine Vielzahl attraktiver Jobs im Bergbausektor.

Die Tageszeitung La República zum Thema Río Blanco

Großbrand in Lima – Cantagallo resiste

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Anfang November brannte es in Limas Altstadt. Ein gewaltiges Feuer verschlang die Häuser von rund 2000 Menschen, allesamt Shipibo-Indigenas aus dem östlichen Regenwald Perus. Cantagallo war die einzige Siedlung von Indígenas in der peruanischen Hauptstadt. Fast 300 einfache Holzhäuser  fielen den Flammen zum Opfer. 46 Menschen wurden wegen Rauchvergiftungen behandelt, ein elfjähriger Junge starb vor drei Tagen an den Folgen seiner schweren Verbrennungen.

Viele hatten ein Unglück bereits kommen sehen. Das  Viertel Cantagallo, eingezwängt zwischen einer neuen Schnellstraße und dem Blumenmarkt in Limas Altstadt, nur zehn Straßenzüge vom Präsidentenpalast und Parlamentsgebäude entfernt, hätte schon längst umgesiedelt werden sollen. Seit Anfang 2000 lebten hier auf engstem Raum rund 230 Familien von der Ethnie der Shipibo-Konibo aus dem peruanischen Regenwald. Sie hatten hier in Lima ihre alten Gemeinschaftsformen aufrechterhalten und Kunst- und Gemeinschaftszentren eingerichtet.

Die vorige Bürgermeisterin Susana Villarán hatte bereits ein Gelände für die Umsiedlung der Shipibo-Gemeinschaft erworben. Nachfolger Luis Castañeda machte das Projekt jedoch zunichte und verwendete das Geld für eine von vielen als unnötig angeprangerte Straßenüberführung. Sein Verhalten wurde in den letzten Wochen stark kritisiert, man wirft ihm Ignoranz und Rassismus vor. Gleichzeitig häufen sich die Solidaritätsbekundungen mit der Regenwald-Gemeinde; der Brand in Cantagallo und die Not der Menschen haben zahlreiche Hilfsaktionen bei verschiedensten Bevölkerungsgruppen Limas ausgelöst. Es gab Spendensammlungen, Kulturveranstaltungen, Filmvorführungen, Musik; das Rote Kreuz, Unis, NGOs, Kulturvereine sind vor Ort und unterstützen die Comunidad. Cantagallo resiste.

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Die Infostelle Peru hatte 2015 über die geplante und nun gescheiterte Umsiedlung der Shipibo-Gemeinde berichtet 

Die nachfolgende Bilddokumentation von Mayra Villavicencio und Ernesto Cabral (Ojo Público) zeigt Cantagallo und seine Bewohner den Tag nach dem Brand.

Bagua. Wenn zwei Welten aufeinanderprallen

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Gestern abend war ich mit zwei Freundinnen im Kino. Das Kino liegt neben einer riesigen Shoppingmall in San Miguel, einem sehr wuseligen Stadtteil. Auf dem Weg dorthin fahren wir Slalom durch den Feierabendverkehr, die Autofahrer hupen, die Motoren knattern, manche Kombis kippen in den Kurven bedenklich zur Seite, weil sie so voll besetzt sind. Als wir den Kinosaal betraten, wird es schlagartig ruhig. Die Leinwand wird grün. Und wir sehen einen wunderbar gemachten, erschütternden Film, El Choque de dos mundos, über zwei Welten, die aufeinanderprallen: das Leben der Menschen im peruanischen Regenwald und das der 10 Millionen Menschen in der Hauptstadt des Landes, wo Wirtschaftsinteressen regieren. Die einen sagen: „Das Land, diese Erde, gehört uns nicht, sie ist uns nur geliehen. Darum müssen wir noch achtsamer mit ihr sein, als wenn es tatsächlich unsere eigene wäre, und sie in besserem Zustand, als sie jetzt ist, an die nächsten Generationen weitergeben“. Der damalige Präsident Perus, Alan García, sagt (2007): „Kommt, amerikanische Investoren, hier findet ihr Rohstoffe in Hülle und Fülle. Seid euch sicher, niemand wird euch in euren Geschäften stören.“ Das kann nicht gutgehen.

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Was folgt, ist eines der traurigen Kapitel der peruanischen Politik und Geschichte. 2009 protestieren Tausende Menschen in Bagua in der nördlichen Provinz Amazonas gegen eine Reihe von Eildekreten, die García erlassen hatte. Zu den Dekreten waren die Indigenen zuvor nicht konsultiert worden, aber die Auswirkungen – die Nutzung ihres Landes für den Erdölabbau, die möglichen Umweltschäden – hätten sie direkt betroffen. Die aufgebrachten Bewohner der Region fordern die Anerkennung ihrer politischen Rechte und ihrer Lebensweisen, sie wollen Dialoge. 60 Tage blockieren sie eine wichtige Zufahrtsstraße in der Region. Dann kippt der Präsident ein wichtiges Gesetz, das den Indigenen Mitspracherechte am Regenwald nimmt, aus Sorge, ein geplantes Handelsabkommen mit den USA zu gefährden. Einen Tag später schickt er Militär in die Curva del Diablo, die Teufelskurve, wo sich die Protestierenden aufhalten.

Alan García, Präsident von Peru 1985-1990 und 2006-2011

Alan García, Präsident von Peru 1985-1990 und 2006-2011

Alberto Pizango, ehem. Präsident der Indigenen Vereinigung AIDESEP

Alberto Pizango, ehem. Präsident der Indigenen Vereinigung AIDESEP

Am Ende sind 33 Menschen (davon 15 Polizisten) tot und 150 verletzt. In den Medien werden die „Morde an den Polizisten“ hochgepuscht und die Indigenen als rückständige Wilde diffamiert, die sich verschworen haben gegen den Fortschritt des Landes. Der Präsident der Indigenen Vereinigung zur Entwicklung im peruanischen Regenwald (AIDESEP), Alberto Pizango, wird wegen Unruhestiftung, Verschörung und Volksverhetzung angeklagt. Er flieht nach Nicaragua. Zwei Jahre später kommt er zurück, um sich den Vorwürfen zu stellen. Jetzt warten er und 53 andere indigene Führungspersonen und Zivile auf ihren Prozess. Die zuständigen Minister werden von jeder Verantwortung für die tödlichen Ereignisse freigesprochen.

Alan Garcia regiert weiter bis 2011. Das Gesetzespaket von damals ist, bis auf wenige Änderungen, trotzdem in Kraft getreten. Es erleichtert ausländischen Investoren bis heute, Ressourcen auf indigenen Territorien auszubeuten. Der jetzige Präsident Pedro Pablo Kuczynski wird an diesem Kurs vermutlich festhalten. Vizepräsidentin in seinem Kabinett ist Mercedes Aráoz Fernández, die unter Alan García Außenhandels-, Wirtschafts- und Tourismusministerin war und wesentlich zur Eskalation des Konflikts beigetragen hatte.

Hier der Trailer zum Film

Ni una menos: Hunderttausende protestieren in Peru gegen Gewalt gegen Frauen

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Hunterttausende Menschen haben am 13. August in ganz Peru gegen die allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen demonstriert. Unter dem Motto „Ni una menos“ – „Nicht eine weniger“, das auf die ermorderte mexikanische Aktivistin Susana Chávez zurückgeht, gingen allein in Lima mehr als 150.000 Frauen und Männer auf die Straße. Sie kritisierten die Gleichgültigkeit der Justiz gegenüber Gewaltverbrechen an Frauen. Es waren die bisher größten Demonstrationen gegen Gewalt gegen Frauen in Peru. Die Zeitung „La República“ nannte die Proteste „historisch“. Auch der seit Juli amtierende Präsident Pedro Pablo Kuczynski lief bei dem gewaltigen Protestmarsch durch die Hauptstadt Lima mit. Justizministerin Marisol Pérez Tello sagte, Peru müsse mit seiner traditionellen Macho-Kultur brechen.

Im vergangenen Jahr registrierten die peruanischen Behörden 95 Frauenmorde (Feminizide), in diesem Jahr sind es bereits 54 sowie 118 Mordversuche. Allein in der vergangenen Woche überlebten drei Frauen die Gewalt gegen sie nicht. Die Dunkelziffer ist weit höher. Laut der Ombudsbehörde werden jeden Monat 10 Frauen von ihren Partnern getötet. Eine Studie derselben aus dem Jahr 2015 zeige, dass 81% der Frauen, die einem Tötungsversuch entgingen, danach keinerlei Schutz von den Behörden erhielten.

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Die Weltgesundheitsorganisation führt Peru in einem 2013 erschienenen Bericht auf Platz drei der Länder mit der höchsten Zahl von weiblichen Opfern sexueller Gewalt durch ihre Partner. Umfragen zufolge halten 74 Prozent der Einwohner Limas die Gesellschaft für frauenfeindlich – gleichzeitig aber vertreten 53 Prozent die Auffassung, dass eine Frau im Minirock selbst Schuld daran ist, wenn sie belästigt wird. Auch der peruanische Kardinal Juan Cipriani Thorne hatte vor wenigen Tagen erst öffentlich gesagt, Frauen provozierten sexuellen Missbrauch durch zu aufreizende Kleidung. Aus den Reihen der Politik gab es für die Aussage heftige Kritik: „Herr Kardinal, in den Fällen von Gewalt gegen Frauen gibt es nur einen Verantwortlichen: den Täter“, betonte der Parlamentarier Alberto de Belaunde.

Ausgelöst wurde die Protestbewegung „Ni una menos“ durch Gewalttaten gegenüber Frauen in jüngster Vergangenheit: ein Mann erschlug seine Frau – Mutter seiner sechs Kinder – mit einem Ziegelstein, weil sie in sein Essen zu viel Knoblauch getan hatte. Fernsehbilder zeigten, wie ein nackter Mann eine junge Frau an den Haaren durch eine Hotelhalle in Ayacucho zog,  er bekam dafür nur eine Strafe auf Bewährung. 

Die Fälle lösten einen öf4fentlichen Aufschrei auf. In Folge dessen eröffneten ein paar Frauen eine geschlossene Facebook-Gruppe, die schnell auf 50.000 Mitglieder anwuchs. In der Gruppe veröffentlichten Frauen jeden Alters und mit vollem Namen ihre jeweiligen Gewalt- und Übergriffserfahrungen. Die Idee zum Protestmarsch folgte kurz darauf.